Das Spiel des Lebens!
Nur ein Phantom? Betrug? Im Oktober 1971 schickte Mönchengladbach die Stars von Inter Mailand mit
einem Kantersieg in die Fußball-Wüste. Doch: Eine Cola-Dose zerstörte den Traum der Borussia.
- Von OSKAR BECK -
Bilder sind von einem japanischen Fotographen namens Masahide Tomikoshi
Wenn der Fußballgott schlechte Laune hat, kann er in seiner Ungerechtigkeit grausam sein. Vermutlich ist er damals
einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden - an jenem traurigtollen Herbsttag 1971, als Günter Netzer auf dem Bökelberg das Spiel seines Lebens machte.
Das heisst: Hat das denkwürdige Spiel in Mönchengladbach am 20. Oktober 1971 wirklich, tatsächlich stattgefunden?
Wir suchen es und finden es nicht. In den offiziellen Ergebnislisten: nichts, keine Zeile. Dort steht unter Europapokal
der Landesmeister 1971/72 nur: Achtelfinale, Borussia Mönchengladbach gegen Inter Mailand, 0:0 und 2:4. Kein Wort
von einem 7:1 für die Borussia. Auch der Fernsehsender "ARD" hat es nicht im Archiv. Nein, so ein Spiel ist nie übertragen worden. Alles nur Phantasie? Ein Phantom?
Gut, dass es 27 500 Zeugen gibt, die Zuschauer auf dem Bökelberg.
Sie waren da. Sie haben alles mit eigenen Augen erlebt, die Sturmflut der Borussen, den Untergang der Weltstars von
Inter und Netzers größtes Spiel - dass er das Cola seither aus keiner Dose mehr trinkt, ist nur ein Gerücht, doch fest
steht, dass Roberto Boninsegna nie sein Freund wurde. "Schamlos, primitiv!", hat Netzer in der Nacht seines Lebens geschäumt.
20. Oktober 1971. Auch Matt Busby sitzt an diesem milden Abend in Mönchengladbach auf der Tribüne, der legendäre
Trainer von Manchester United. Die Uefa hat ihn als Beobachter geschickt, und hinterher sagt er:
"Keine Mannschaft der Welt hätte hier eine Chance gehabt."
Die erfolgsverwöhnten Stars von Inter Mailand ahnen gar nicht, was sie erwartet. Sie sind der zweifache Europacup-
und amtierende Weltcupsieger und fragen sich: Ist Mönchengladbach ein Stadtteil von München? Und Netzer - ist das nicht diese launische, wetterfühlige Diva?
Günter Netzer, der Playboy, sprich: Spielmacher, repräsentiert eine ganz neue Kunst und Kultur, er ist der erste
deutsche Fußballer, der wie ein Rockstar daherkommt. Er fährt Ferrari, zeigt sich mit schönen Frauen, führt die
Diskothek "Lovers Lane", trägt die Haare schulterlang, und der Fußball, den er spielt, ist der Ausdruck seines
Lebensgefühls. "De Jünter" (so Trainer Hennes Weisweiler) spielt nicht auf Nummer sicher, sondern hemmungslos
riskant - wenn ihm Berti Vogts von hinten den Ball zugrätscht, durchmisst Netzer mit Schuhgröße 47 die Tiefe des
Raums und tritt dagegen, dass die Luftpost abgeht, hinaus in die weite Welt. Sein erster "Traum-Pass" landet bei
Herbert "Hacki" Wimmer. Der zu Heynckes. 1:0. Das 1:1 durch Boninsegna bremst die Borussen nicht. 2:1 durch den Dänen Ulrik Le Fevre.
Es ist das Signal zum Sturmwirbel. Netzer, der King vom Bökelberg, gibt sich in jener Nacht die Krone.
Der Reporter der italienischen Zeitung "La Stampa" telefoniert von der Tribüne nach Hause, dass die Defensivkünstler
Burgnich und Facchetti überrollt werden von diesem
"vernichtenden Nibelungenangriff. Nur der Ausfall des Flutlichts könnte Inter retten.”
Oder der Flug einer Cola-Dose.
Die unheilvolle 30. Spielminute. Boninsegna will einen Einwurf machen - da trifft ihn eine Büchse, die zwar leer, aber
dennoch von erstaunlicher Wirkung ist: er fällt um.
Roberto Boninsegna, der Angstschreck der Deutschen. Schon beim Spiel des Jahrhunderts, dem Weltmeisterschafts
-Thriller in Mexiko 1970, Endstand 3:4, hat er zugeschlagen. "Er ist", sagt Italien-Legionär Karlheinz Schnellinger, "der beste Mittelstürmer der Welt."
Aber ein noch größerer Schauspieler. Als er aufstehen will, drückt ihn Trainer Invernizzi zurück, und Roberto gibt den
sterbenden Schwan. Große Oper, Mailänder Scala. "Keine Sekunde war er bewusstlos", sagt Gegenspieler Luggi Müller - aber so, wie sie Boninsegna auf der Trage wegschleppen, muss er tot sein.
Sieben Minuten ist das Spiel unterbrochen. Inter-Star Mazzola übergibt dem holländischen Schiedsrichter Dorpmans
eine Dose, "die", so Netzer wenig später, "gar nicht die echte war." Dann geht es weiter. Für Boninsegna kommt Ghio,
aber auch ihm wird schnell schwindlig. Die 33. Minute: 3:1 durch Le Fevre. Leidenschaftlich leisten die Borussen, angetrieben vom jungen Bonhof, dem Kfz-Kennzeichen von Mönchengladbach Folge: MG - Salven, Schüsse, Sensationen.
Die 42. Minute. Freistoß. Netzer führt sein Zwiegespräch mit dem Ball,
Anlauf, Schlenzer - 4:1.
Die 44. Minute: Jupp Heynckes - 5:1.
Halbzeit. Alle holen Luft. Die Italiener, die Borussen, der ganze Bökelberg. Der Lagerarbeiter Manfred K., 29, wird aus
dem Stadion abgeführt. Er soll die Dose geworfen haben (was ihm nicht zu beweisen ist) und verpasst wegen des
Verhörs den Rest des Spiels - doch wer sieht dieses Spiel schon? Kurz vor dem Anpfiff hat die "ARD" die Übertragung
abgesagt: Der Grund sollen 6000 Mark Mehrwertssteuer gewesen sein, die Gladbach noch kassieren wollte, und zwölf Millionen Deutsche schauen in die Röhre. Und hören im Radio die nächsten Torschreie: 6:1 durch Netzer, 7:1 durch
Sieloffs Elfmeter. Der Schlusspfiff ertönt.
Ende der Ekstase.
In der Kabine singen die Sieger. Manager Grashoff meldet ihnen, Inter habe Protest eingelegt - doch was soll passieren
? Eine Geldstrafe, sagen sich die Borussen und überfahren in der Bundesliga drei Tage später auch noch die Schalker
mit 7:0. Doch der Albtraum nimmt langsam Gestalt an. Neun Tage lang wird diskutiert. "Die Dose war voll", sagt der Schiedsrichter plötzlich, und die kleine Borussia merkt, dass sie keine Lobby hat.
Das Urteil ist ein K.o.-Schlag: Das Spiel wird annulliert, die Wiederholung findet auf neutralem Platz statt. "Betrug!",
toben die Borussen. Sie verlieren den Glauben an die Gerechtigkeit und mit 2:4 prompt das Rückspiel in Mailand -
Boninsegna, von den Toten auferstanden, traktiert Luggi Müller mit Faust und Füßen, und "La Stampa" titelt: "Netzers schwarze Nacht."
Das Wunder vom Bökelberg lässt sich seine Einmaligkeit nicht nehmen. Beim torlosen Wiederholungsspiel in Berlin
verschiesst Sieloff einen Elfmeter, Boninsegna bricht Müller das Bein, die Borussia ist draußen -
Ausradiert ist das 7:1 - Das größte Spiel des Günter Netzer und der
größte Irrtum der Fußballgeschichte.
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