Szenen aus dem deutschen Fußball – eine dramatische Chronik des Niedergangs / Von Moritz Rinke
 

Erste Szene:

Beate und Otto beim Frühstück in Kampen auf Sylt, im Lieblingshotel. Es ist Samstag um 8 Uhr 30.


OTTO (Immer noch im Trainingsanzug mit Medaille um den Hals): Ich kann’s immer noch nicht glauben, Beate, ich bin Europameister! Europameister, Beate! In den Dünen abgetaucht, abgeschirmt der Europameister! Die Bildzeitung hat mich mit Sokrates verglichen! Sokrates, Beate! (Schaut Beate wie in Stein gehauen an)

BEATE: Ottochen, setz dich vernünftig hin und iss!

OTTO: Nein! Gazzetta dello Sport schreibt „Gotto!“, nicht Otto, sondern „Gotto“, Beate! Dir gebenüber sitzt Gotto in Kampen beim Frühstück, freust du dich? In Kampen wie in Athen: Zeitlebens die Busspur benutzen! Zeitlebens und darüber hinaus ich auf der Busspur, du auch Beate. (Starrt sein Ei an, also das Frühstücksei) Warum kommt das Ei nicht zu mir?! (Beugt sich über das Ei) Komm zu Gotto!

BEATE: Mensch, Otto, wenn das die anderen Kurgäste sehen!

OTTO: Los Ei, roll zu Gotto! (Das Ei bleibt bewegungslos liegen) Muss ich mich denn nach diesem Scheißei strecken, Beate? (lacht) Wenn ich Bundestrainer bin, kommen alle Eier zu mir. (Lacht. Hört gar nicht mehr auf) In München auch nur die Busspur benutzen! Hoeneß bleibt im Stau stecken und beißt sich in den Arsch, wenn ich an ihm vorbei auf der Busspur… Du, ich stell keinen einzigen Bayern auf! Keinen! Nicht mal Müller-Wohlfahrt! Ich guck mal bei Mainz 05! (Lacht sich scheckig)

BEATE: Reiß nicht so an der Tischdecke! Wir sind hier nicht zu Hause!

OTTO: Beckenbauer auch im Stau! Ich krieg mich gar nicht wieder ein! (Macht sein Auto nach und spielt Gotto auf der Busspur) Rrrrrnnnnnn. Rrrrrnnnnn, na, Franz, blöder Stau, was? Mach’s gut, du Kaiser von Kitzbühl. Rrrrrrrrnnnn! Rrrrrrrrrnnn! Tschüß. Und zisch.

(Sinniert jetzt wie einst Sokrates)

Mayer-Vorfelder, du alte Schampus-Tucke, du unterzeichnest jetzt mal eben dieses Dekret, wo geschrieben steht, dass du dich nie mehr über Fußball äußerst.

(Brüllt vor Lachen. Plötzlich ernst)

Ich reaktivier’ Andy Brehme! Wir spielen ohne Spitzen, geht nicht anders. (Visioniert in die Dünen blickend, als ob Töpperwien vom ZDF vor ihm sitzt) Brehme mit Kutzop und Votava hinten, hinten Sechserkette, verstehst du mich, Töpperwien?

BEATE: Ich bin nicht Töpperwien.

OTTO: Lebt Briegel noch? Hans-Peter Briegel, na, die werden sich wundern! Den Rest nehm ich von den Griechen, „Gotto baut aus griechischer Rippe 11 deutsche Adams...“ New York Times. „Rehakles entzaubert Brasileros mit Neu-System 7-3-Null!“

(Hüpft um den Kampener Tisch wie durch das Estádio da Luz in Lissabon)

BEATE: Otto, du bist nicht Rumpelstilzchen, nun is’ mal gut, nun is’ Urlaub!!! (Haut auf den Tisch) Hör zu, Ottochen: DU WIRST NICHT BUNDESTRAINER. Klar?

OTTO (Verschluckt sein Ei) Wie bitte?

BEATE: Geh’ mal in die Düne, und denk nach. Und nimm dir die Jacke mit, es regnet, Gotto! (Otto geht protestlos in die Düne. Nach vier Stunden des Auf- und Ablaufens der Düne kommt er weinend zurück.)

OTTO: Beate?!!

BEATE: (Streichelt ihn) Soll ich Beckenbauer anrufen, oder tust du es?

Zweite Szene:

Es ist Samstagnachmittag. Beckenbauer mit seiner derzeitigen Lebensgefährtin bei Kaffee und Zwetschgenkuchen in Herzogenaurach kurz vor einem Adidas-Empfang auf der Terrasse.

BECKENBAUER: Herrlicher Ausblick! (Beißt in den Zwetschgenkuchen) Spatzl, weißt du, wie viel ich krieg’, dafür, dass ich die Findungskommission bin? (Lacht) Ich les’ „Bild“, und das nennen die Findungskommission! (Schüttelt sich) Bundestrainer?!! (Schüttelt sich noch mehr) Mit dieser Gurkentruppe!! (Verschluckt sich) In zwei Jahren, nach der Vorrunde, ist der Rehhagel wieder da, wo er hingehört: Rot-Weiß Essen! (Er blickt über Herzogenaurach) Die werden an Albanien scheitern. Ja, Albanien. (Lächelt. Schaut seine derzeitige Lebensgefährtin an) Puder mir die Stirne! Ich hab gleich noch TV-Spot! (Das Handy klingelt)

BECKENBAUER: Beckenbauer! Servus Otto, grüß Gott! Du, die „Bild“-Zeitung hat dich mit Sokrates verglichen (lacht), na ja, ein bisschen übertrieben (ernster), ich bin ja mal mit Goethe gleichgesetzt worden, schau’n mer mal, ich ess grad Zwetschgenkuchen, gibt’s in Griechenland ja gar nicht (lacht), da muss der Otto schon nach Deutschland kommen, was? Mal im Ernst, wer sonst soll’s richten? Fünf Millionen, geht klar, du, der Gerhard, meine derzeitige Lebensgefährtin sagt immer, Mayer-Nachfolger (lacht), na ja, scheiß Witz, Frauen und Fußball, wurscht, im DFB räum ich bis Weihnachten auf, keine Sorge, stell dir vor, wir haben eine WM, zwei Präsidenten, aber null Bundestrainer (brüllt vor Lachen). Otto, aber wir beide, wir richten’s, bedenk, dass du aus Essen kommst und jetzt Bundestrainer, was warst du noch? Manndecker, Vogts war linker Verteidiger, immerhin, aber Manndecker? Einen Manndecker hatten wir noch nicht, Honecker war Dachdecker… Wie?

(Er stoppt)

…Was sagst du da, Otto? Hallo? (Lässt den Hörer sinken. Ihm fallen Zwetschgen aus dem Mund.)

SEINE LEBENSGEFÄHRTIN: Ist dir nicht gut? Dir fällt Kuchen aus dem Mund.

BECKENBAUER: Wann kommt bei uns zu Hause die Müllabfuhr?

SEINE LEBENSGEFÄHRTIN: Wieso?

BECKENBAUER: Lothars ungarische Handynummer! (Er bricht ohne TV-Spot und Adidas-Empfang und Zwetschgen ausspuckend auf, zur Mülltonne.)

Dritte Szene:

Lothar Matthäus und irgendeine ungarische Blondine im Schlafzimmer. Eine Nacht wie viele Nächte.

MATTHÄUS: Ich kann nicht schlafen.

BLONDINE: Soll ich noch mal?

MATTHÄUS: Nein. Gib mir mal eben deine Puppen.

(Er nimmt eine Puppe)

MATTHÄUS: Guck mal, das ist jetzt mal Morten Olsen. (Er starrt die Puppe finster an, will mit der Puppe Voodoo machen, verwechselt es aber mit Judo und ringt die Puppe mit unfairen Mitteln nieder. Am Ende reißt er ihr den Kopf ab.)

BLONDINE: Spinnst du?! (Weint)

MATTHÄUS: Morten Olsen wird nicht mehr Bundestrainer. (Nimmt noch eine Puppe) Guck mal, Guus Hiddink! (Spuckt die Puppe an) Holländer!! (Wischt sich mit der Puppe den Hintern)

BLONDINE: Spinnst du? (Weint)

MATTHÄUS: Schade, dass du nicht noch ’ne Puppe hast, sonst mach ich auch Winni Schäfer fertig.

(Spült Hiddink das Klo hinunter)

Heul hier nich’ rum, wir spielen jetzt ARD-Studio. Du bist Waldemar Hartmann und ich Lothar Matthäus, wer sonst? Frag!

BLONDINE: Was?

MATTHÄUS: Mann, irgendwas! Dass ich Bundestrainer bin! (Sie fragt)

MATTHÄUS: Waldemar, das wurde von den Medien ja auch hochsterilisiert. Ich bin selbstkritisch, auch mir selbst gegenüber und werde immer vor der Mannschaft stehen.

BLONDINE: Hinter!

MATTHÄUS: Was?!

BLONDINE: Hinter, nicht vor!

MATTHÄUS: Sei ruhig! – Waldemar, wir wollen im eigenen Land den Titel, alles andere ist primär. Nach dem EM dürfen wir jetzt nicht den Sand in den Kopf stecken, sondern müssen kompakt nach vorne gucken. Wir sind eine gut intrigierte Truppe, aber: Auch die anderen können Fußball spielen, ich habe immer verbal gesagt: Wir müssen Eier zeigen. Im eigenen Land die WM, Waldemar, das sind Gefühle, wo man schwer beschreiben kann.

BLONDINE: Die!

MATTHÄUS: Wie?!

BLONDINE: Die, nicht wo!

MATTHÄUS: Sei still, du bist blond. Ein Spiel dauert 90 Minuten.

(Genau. So geht das noch eine Weile. Matthäus verwechselt noch 20-mal hochstilisieren mit sterilisieren, sekundär mit primär, Kopf mit Sand sowie vor mit hinter und wo mit die, während er die Blondine ständig mit Waldemar anspricht, nebenher Hiddink aus dem Klo zieht, umtauft und statt Voodoo mit Hitzfeld Judo macht – bis das Handy klingelt.)

MATTHÄUS: Lotttdddaar Matthäus! …Franz!!!!!! (Zur Blondine) Es ist Beckenbauer!! (Sie weint fürchterlich.) ENDE
 


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